Florian Giermann (Jahrgang 1974, verheiratet, 3 Kinder) ist seit 1993 im Apothekenumfeld tätig – zuerst als Bote in einer Apotheke während seines Jurastudiums, danach in verschiedenen Positionen in Support, Vertrieb und Geschäftsführung von Unternehmen der NOVENTI Group.
In seinem privaten Blog www.edikt-von-cupertino.de veröffentlicht er wöchentlich Essays über die Auswirkung der Digitalisierung auf die Apotheken. Sein Buch „Das Edikt von Cupertino“ zu eben diesem Thema ist im Oktober 2018 beim Deutschen Apotheker Verlag, Stuttgart erschienen.
Als wir vor etwa acht Monaten mit Florian an unserem gemeinsamen Kapitel für „Rethink Healthcare“ gearbeitet haben, dachten wir, dass im April 2021 die Krise bereits der Vergangenheit angehören wird. Inzwischen hat sich für einige von uns beruflich vieles geändert und einige von uns haben durch die Krise den ersehnten Sprung nach vorne geschafft.
Apothekenteams sind auf einem sehr hohen Stresslevel geblieben – neue Anforderungen kamen hinzu, alte sind unverändert geblieben. Zwischenzeitlich befinden sich Apothekenmitarbeiter zwischen Motivation und Resignation.
Was hat sich bei Dir Florian beruflich verändert?
Vor Corona bestand mein Arbeitsalltag sehr viel aus Reisen. Mein Arbeitgeber sitzt in München, mit meiner Familie wohne ich aber in der Pfalz. Das sind über 350 Kilometer Entfernung. Die Strecke Mannheim – München, für die man mit dem ICE genau drei Stunden braucht, bin ich fast wöchentlich gefahren. Die drei Stunden im Zug waren dabei für mich die wertvollste Zeit, weil ich dort ungestört arbeiten konnte. Arbeiten heißt in dem Fall gedanklich arbeiten: also in Ruhe und mit Abstand zur Hektik des Alltags überlegen, was man anders machen könnte – und ob dieses „anders“ dann auch tatsächlich besser wäre als der bisherige Weg. Daneben hatte ich pro Jahr um die vierzig Flüge, überwiegend zu Kongressen und Tagungen in Europa. Letztes Jahr waren es genau sieben Flüge, in diesem Jahr bis jetzt noch keiner – und aktuell sind auch keine Dienstreisen mit der Bahn oder dem Flugzeug in Sicht. Diese komplett ungestörte Zeit fehlt mir seit März 2020. Mit ganz wenigen Ausnahmen im Sommer 2020 bin ich seit über einem Jahr im Homeoffice.
Zur Heimarbeit habe ich ein sehr ambivalentes Verhältnis.
Natürlich freue ich mich einerseits darüber, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Das hatte ich in meinem gesamten bisherigen Berufsleben noch nicht. Andererseits ist mein Terminkalender viel engmaschiger getaktet. Zwischen zwei Terminen bleibt selten Zeit zum Nachdenken. Gefühlt arbeite ich auch mehr als vorher, befürchte aber, dass ich vorher effizienter war.
Was mir auch fehlt, ist der persönliche Kontakt zu anderen Menschen, zu Kollegen,
sonstigen Marktteilnehmern und teilweise auch zu Wettbewerbern.
Ich war ja auch regelmäßig für Vorträge gebucht, im Frühjahr 2020 sogar über mehrere Monate hinweg auf ERFA-Gruppen und Kongressen. Das fiel dann alles weg. Und ganz ehrlich: um in Übung zu bleiben, mache ich natürlich auch Webinare und Online-Vorträge, aber es ist nicht damit vergleichbar, vor Menschen zu stehen und direkt mit ihnen interagieren zu können. Wobei es durchaus digitale Formate mir guten und innovativen Ansätzen, wie zum Beispiel das englischsprachige DHV-NET, gibt, von denen ich denke, dass sie auch nach Corona eine absolute Existenzberechtigung haben.
Für uns Autoren gab es sehr viele Anfragen: Die Themen Digitalisierung, Stressmanagement & Gesundheitsmanagement in der Apotheke wurden plötzlich relevant. Welche Schreibprojekte stehen bei Dir derzeit an?
Neben all den Änderungen bin ich tatsächlich als Autor stärker wahrgenommen worden und von weiteren Herausgebern angesprochen worden. Für den Herbst ist ein Buch zum Klimaschutz in Apotheken im DAV geplant, an dem ich mich sehr rege beteiligt habe, in der Zeitschrift „die erfolgreiche Apotheke“ erscheint bald mein zweiter Beitrag in diesem Jahr – und dann schreibe ich in meiner Freizeit, meist am Wochenende, auch noch an einem ganz persönlichen Buch. Das hat aber überhaupt nix mit Apotheken zu tun.
V wie das Vertrauen?! In meinem LOVE-Modell spielt das Vertrauen eine sehr wichtige Rolle. Eine Zusammenarbeit ohne Vertrauen ist für mich eine lästige Pflicht, aber kein Spaß. In den Apotheken herrscht beispielsweise häufig für die Angestellten ein generelles Handyverbot – „Verbot vor Vertrauen“. Wie stehst Du zu solchen Verboten bzw. zu einer vertrauensbasierten privaten Handynutzung, die in vielen großen Unternehmen Usus ist?
Ich hatte selbst jahrelang Verantwortung für über 600 Mitarbeiter. Damals gab es auch bei uns mehrere Fraktionen. Die einen, die möglichst viel möglichst eindeutig regeln wollten und dann die anderen, die mehr auf den gesunden Menschenverstand gesetzt haben und den Mitarbeitern eine „längere Leine“ gewährt haben. Ich gehöre definitiv zur letzteren Variante. Wenn ich meinen Mitarbeitern nicht vertrauen kann, dann habe ich sie falsch ausgewählt. Ähnlich sehe ich Verbote von Handys oder Sozialen Netzwerken. Beides sind Werkzeuge zur Kommunikation, so wie früher das Telefon und davor Telegramme, berittene Boten und Rauchzeichen. Und Kommunizieren ist mehr denn je eine der Kernaufgaben der Apotheke.
Natürlich gibt es auch Grenzen dessen, was in bzw. von der Apotheke kommuniziert werden darf, Stichwort Datenschutz oder Heilmittelwerbegesetz. Aber bei Deiner letzten Frage habe ich ja bereits zu erklären versucht, dass es vor allem über die Persönlichkeit und Empathie gelingen kann, sich von den Versandapotheken abzuheben. Und genau darauf zahlen doch auch die Sozialen Netzwerke ein. Wenn ich dort die Menschen sehe, die mir in der Apotheke bei der Erhaltung, Förderung oder Wiederherstellung meiner Gesundheit helfen, dann freue ich mich doch. Ich kenne die! Und wenn die Apotheke dann auch noch auf meine Kommentare regiert, dann freue ich mich noch mehr, weil ich wahrgenommen werde. Genau das ist doch die psychologische Funktionalität hinter den Likes: ich werde wahrgenommen!
Gewiss, ganz ohne Grenzen wird es nicht gehen. Aber ich würde diese Grenzen niemals zu eng ziehen. Immerhin wächst doch gerade die nächste Generation Apothekenkunden heran. Die kennen die Welt ohne Internet und Smartphones gar nicht mehr. Rein statistisch wird die Hälfte der um die Jahrtausendwende Geborenen in den nächsten 10 Jahren zu Chronikern werden. Wäre doch gut, wenn wir die auch schon digital an unsere Apotheke vor Ort gebunden hätten. Und da nicht immer alles die Inhaberin oder der Inhaber selbst machen kann, würde ich die digitale Bühne unbedingt stets mit meinem Team teilen.
Viele meiner Kollegen sind online nicht auffindbar: Im Internet interagieren sie nur unter Pseudonym oder gar nicht – das Internet wird als Gefahr gesehen. Wir sind beide online, stellen unsere Ideen, Gedanken und unseren Namen öffentlich zur Verfügung. Wir nutzen Twitter, Instagram & Co zum Aufbau spannender beruflichen Kontakte. Auch wir beide sind uns „im Netz“ begegnet. Worauf achtest Du, wenn Du Dein Wissen digital teilst und mit anderen Menschen interagierst? Was ist Dir besonders wichtig? Kann man online Vertrauen aufbauen?
Ich möchte im Internet vor allem echten Menschen begegnen. Auf LinkedIn bekomme ich fast täglich Nachrichten, die mit „Hey, Dein spannendes Profil ist mir sofort aufgefallen“ oder ähnlichem Blabla beginnen. Auf die reagiere ich gar nicht mal. Das kommt mir manchmal vor wie auf einer billigen Dating Plattform. Auf so etwas habe ich überhaupt keine Lust, das kostet nur meine Zeit ohne jeglichen Mehrwert. Andere, so wie Du oder beispielsweise auch Jan Reuter, posten Inhalt, der mich interessiert. Irgendwann kommentiert man dann mal oder schreibt sich an. Das ist echt, authentisch und bietet beiden einen Mehrwert. Abgedroschene Plattitüden gibt es da nicht – und die braucht es auch nicht. Und natürlich entsteht so auch Vertrauen, in den meisten Fällen gipfeln solche virtuellen Bekanntschaften irgendwann auch in ein persönliches Kennenlernen. Und das war bis jetzt ausnahmslos toll, weil ich eben die andere Person schon aus dem Internet so gut kannte, dass es nie „böse Überraschungen“ gab.
Dass sich nicht alle darauf einlassen wollen, kann ich zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Ich zeige auch selten meine Kinder oder nenne deren Namen im Internet. Die sollen, wenn sie groß genug sind, selbst entscheiden, welche Bilder und Informationen über sie draußen kursieren sollen. Aber manche verstecken sich auch nur hinter ihren Pseudonymen, um dann ordentlich vom Leder ziehen zu können. Kann man machen, wäre aber nicht mein Stil.
Was mein Wissen betrifft, so ist das ja kein Hoheitswissen. Häufig führe ich nur aus verschiedenen Quellen Themen zusammen und dampfe die auf eine allgemein verständliche Flughöhe ein und ergänze gelegentlich noch um apothekenspezifische Aspekte. Das teile ich gerne so mit allen, die es interessiert, denn profitieren können davon doch immer beide Seiten. Jede Apotheke, die sich auch nur ein bisschen was aus meinen Veröffentlichungen oder Vorträgen mitnimmt, hat zumindest eine Entscheidungsgrundlage gewonnen, um die Abwägung zu treffen, was zur eigenen Strategie passt und was nicht. Digitalisierung sollte ja niemals Selbstweck sein, sondern stets im Kontext des eigenen Unternehmens betrachtet werden. Ich hingegen konnte mich so über die Jahre positionieren, vor dem Wort „Experte“ scheue ich mich nach wie vor, aber teilweise verwenden andere das, wenn sie über mich sprechen. Dadurch erhöht sich meine Sichtbarkeit und ich bekomme dadurch zunehmend Aufträge als Autor oder als Referent.
Ich danke Dir herzlich Florian für das Gespräch und für die sehr angenehme Zusammenarbeit an unseren Projekten im Jahr 2020!
